Die Ratschläge meiner Großmutter

Cover Lisan

Die Ratschläge meiner Großmutter
als ich klein war,
hießen da:

„Iss ordentlich, damit du groß wirst“,
- und ich wurde groß -
„trink viel Wasser,
geh abends nicht zu lange aus,
rauche nicht, damit du lange lebst.“

Ich ging abends lange aus,
ich rauchte,
und ich bin nicht gestorben.

An meinem Lebensabend
vor dem laufenden Fernseher
sah ich eines Tages mit an,
wie schwere Schuhe
die Welt dem Erdboden gleich machten,
hörte eine endlose Aufzählung jener,
die gerade die Erde verlassen hatten,
sah den Wettlauf in hastigem Begraben.
Seit damals schlafe ich kaum mehr.

Auf einem anderen Kanal
dieselben Bilder,
musste sie hinunter würgen,
bloß in einer anderen Sprache,
noch ein Kanal
und noch eine Sprache.
Dann waren es nur mehr meine Augen,
die all das aufsaugten.
Blitze trafen ständig mein Gesicht,
und ich schlief nicht mehr.

Werbungen zwischen den Nachrichten:
Man riet mir
zu Gutem für den Magen,
zu Erfrischendem für meine Laune.
Aber wie sollte ich jemals wieder schlafen?

Großmutter, ich bin alt geworden
in diesen Tagen,
musste älter werden,
als ich dachte,
um zu begreifen,
dass diese nichtigen Giganten
sich aufmachen,
um die ganze Erde umzueggen,
ihr so vieles und viele zu entreißen.
Sie pflügen sogar das Weltall um,
um uns mit Nachrichten zu beglücken
über neue schwere Schuhe,
die weiter den Boden ebnen.

Großmutter, jetzt schlafe ich nicht mehr:
Hier der absurde Überfluss an Essen,
hier der Hunger,
hier der absurde Überfluss an Wasser,
hier der Durst
und hier und dort der Überfluss an Nachrichten!

Großmutter, niemand will
diese Nachrichten begreifen!
Gesichter stürzen sich
auf die Fenster der Auslagen,
bleiben an ihnen hängen,
schwingen hin und her wie ein Pendel;
Gesichter, die gierig
nach passenden Schuhen suchen
für eine Life-Übertragung.

Wien, 28.03.2005