Gedanken zum Artikel 22 der Menschenrechtsdeklaration

Menschenrechte

Sie sagten, alle Menschen seien gleich.
Und wir gingen ihnen in die Falle
und waren selbst daran Schuld.
Denn wir haben sie nicht gefragt,
wen sie nun mit Menschen meinten.

(Aus: Aus dem Teppich meiner Schatten, S. 127)

Als ich vor über zwanzig Jahren nach Österreich kam, gab es in diesem Land nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen dunkler Hautfarbe, die meisten UNO-BeamtInnen oder Botschaftsangehörige, die von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen und als ExotInnen betrachtet wurden. Abgesehen davon würden diese Menschen ja irgendwann wieder dahin zurückkehren, woher sie gekommen waren. Man trat mir am Anfang mit einer gewissen Neugier entgegen, wollte wissen, woher einer wie ich kam, wie die Wälder aussehen würden, die ich mit den wilden Tieren geteilt hatte, oder wie es denn so wäre, wenn man auf einem Kamel die Wüste durchquerte. Mein Deutsch war damals noch nicht gut genug, um unterscheiden zu können, ob diese Fragen auf Unwissenheit zurückzuführen wären oder auf Hohn und Spott abzielten.

Es war für eine „weiß“ geprägte Gesellschaft Mitteleuropas eine neue Erfahrung, Menschen dunkler Hautfarbe zu begegnen, und ich musste mich daran gewöhnen, dass ich auffiel, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewegte.

Es war für eine „weiß“ geprägte Gesellschaft Mitteleuropas eine neue Erfahrung, Menschen dunkler Hautfarbe zu begegnen

Nun, nachdem beinahe ein Vierteljahrhundert vergangen ist, sich die Gesellschaft in ihrer Zusammensetzung wesentlich verändert hat und mittlerweile eine viel größere Gruppe Menschen dunkler Hautfarbe hier lebt, stellt sich die Frage, wie weit Mehrheit und Minderheiten voneinander gelernt haben, sich der Umgang miteinander geändert hat.

Als ich kurz nach meiner Ankunft in Wien einmal in einem Supermarkt an der Kasse länger brauchte, mein Geld zu finden, hörte ich zum ersten Mal das Wort „Neger“. Ein Mann hinter mir fragte mich: „Bist neger?“, und natürlich verstand ich diese Frage ganz anders. „Neger“ war die übliche Bezeichnung für einen wie mich, doch in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich herumgesprochen, dass dieses Wort für Menschen dunkler Hautfarbe abwertend ist. Man sollte also annehmen, dass „Neger“ langsam aus dem Wortschatz gestrichen wurde. Doch seltsamerweise ist das Gegenteil der Fall: neue Ausdrücke haben sich zu „Neger“ und „Mohr“ hinzugesellt, und der Fantasie der Menschen scheint hier keine Grenzen gesetzt zu sein, der Ton ist noch verächtlicher geworden, denkt man an „Bimbo“ oder „Wollschädel“, gängiges Vokabular vieler Polizeibeamten.

Ein Freund, der mich in einem Interview im Radio erzählen hörte, dass mir vor kurzem ein junger Mann in der Dunkelheit „Nigger“ zurief, als ich gerade mit meiner Frau gut gelaunt vom Kino auf dem Heimweg war, meinte, dass ich darüber nicht empört sein sollte, denn die Sudanesen würden es in Ägypten auch nicht besser haben. Ich sollte nicht so empfindlich sein, es gäbe noch viel Schlimmeres. Unbestritten gibt es auf der ganzen Welt Rassismus, und im ärgsten Fall verlieren Menschen ihr Leben aufgrund ihrer Hautfarbe oder ethnischen Zugehörigkeit. Aber wo sind die Grenzen zu ziehen, soll man „harmlosere“ Dinge übersehen und überhören, ja sogar tolerieren, weil man im Vergleich dazu immer noch Ärgeres finden kann? Vielleicht ist ja gerade diese Verharmlosung ein Grund dafür, dass sich im gesellschaftlichen Bewusstsein wenig verändert hat.

Ich lebe und arbeite nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten hier, habe die deutsche Sprache erlernt, ein Studium abgeschlossen und bin mit einer österreichischen Frau verheiratet. Trotzdem fühle ich mich in vielen Situationen in eine Schublade mit der Aufschrift „fremd und gefährlich“ gesteckt. Ich muss ständig meinen guten Willen beweisen, ein Mitglied dieser Gesellschaft zu sein. Die Tatsache, dass ich aus einer moslemischen Familie stamme, erschwert die Sache noch um einiges. Ich habe begriffen, dass ich für viele Einheimische nie ein vollwertiges Mitglied des österreichischen bzw. europäischen Klubs sein kann. Es hilft nicht, dass ich einen österreichischen Reisepass habe, die deutsche Sprache beherrsche, ein Arbeitnehmer und Steuerzahler bin, denn meine Hautfarbe hat sich nicht geändert. Ich bin trotz meines langen Aufenthalts hier nicht heller geworden. Ich weiß nicht, wie es dieses Schlitzohr Michael Jackson angestellt hat, von der schwarzen in die weiße Gruppe umzusteigen. 

Kehren wir nun zu Artikel 22 der Menschenrechtserklärung zurück, so beginnt der Text mit den Worten „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf“. Wer zählt zu den Mitgliedern der Gesellschaft? Ist der Türke, der Serbe oder der Ägypter ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft? Und ist der „Afrikaner“ (wie man hier zu sämtlichen Menschen dunkler Hautfarbe sagt, als ob es keine Länder gäbe, aus denen sie kommen) eines? Um welche Art von Mitgliedschaft handelt es sich hier? Einer wie ich wird in diesem Land und in ganz Europa lebenslang ein Mitglied auf Bewährung sein.

Ich habe den restlichen Inhalt des Artikels 22 nicht vergessen, doch beim Lesen bin ich schon über die ersten sieben Worte gestolpert, musste beim Begriff „Mitglied“ innehalten, dessen Konturen vor mir sofort verschwammen. Beim Versuch, das Wort in den Griff zu bekommen, stellte ich fest, dass ich nicht so einfach darüber hinweg lesen konnte.

Wenn Menschen wie ich in diesem Land die Vollmitgliedschaft in der Gesellschaft genießen, die Wände an Häusern, Telefonzellen und Toiletten nicht mehr mit „Nigger raus“ beschmiert sind, die Polizeibeamten Wörter wie „Bimbo“ oder „Wollschädel“ aus ihrem Wortschatz gestrichen haben, uns niemand mehr verächtlich wie Außerirdische anglotzt und nur aufgrund unserer Existenz empört dazu den Kopf schüttelt, wenn die Medien korrekt über uns berichten, PolitikerInnen für uns eintreten, wenn wir unserer Rechte beraubt werden, keiner von uns, wehrlos am Boden liegend, durch die Behandlung von ExekutivbeamtInnen sein Leben verliert, keiner wie ein wildes Tier gefesselt und geknebelt in einem Flugzeug sterben muss, erst dann wird es möglich, „in den Genuss der für unsere Würde und die freie Entwicklung unserer Persönlichkeit unentbehrlich wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“, wie der Artikel 22 der vor über fünfzig Jahren deklarierten Menschenrechte besagt.

Artikel 22 der Menschenrechte

Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesell-
schaft Recht auf soziale Sicherheit, …

Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit, er hat Anspruch darauf, innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.


Erschienen in Liga, Zeitschrift des Österreichischen Liga für Menschenrechte, Nr. 1/2005, Wien.