Risse eines Orts

Cover Manuskripte

1

Im Sonnenuntergang eines Tages
in einem tiefen Winter,
Salz in einer Hand,
Brotreste in der anderen,
die Erinnerung in meinem Herzen
und unter dem Hemd an meiner Brust
eine Flasche Parfum,
die den Ort zurückholen soll,
an dem ich war.
Ich bin mit meiner Last über der Welt
für ein paar Stunden,
um plötzlich mit ihr in Schwechat zu landen.

2

Am Taxifahrer vorbei sind meine Augen
auf die Welt gerichtet
mit ihren neuen Buchstaben,
die Lichter erinnern an Trubel und Leben.
Am Taxifahrer vorbei sind meine Augen
auf die Türen verschlossener Häuser gerichtet,
auf geschlossene Fenster,
auf Mädchen mit natürlichem Lächeln.
Meine Augen suchen nach Balkonen und Terrassen,
sie sind auf eine Donau gerichtet,
die im Sonnenuntergang dieses Tages
und in diesem tiefen Winter
nicht blau ist.

3

Fünfundzwanzig Jahre, ein schwerer Koffer und ich –
wir landen.
Mein Kopf trägt meinen Körper,
mein Körper meinen Koffer,
mein Koffer fünfundzwanzig Jahre
durch die endlosen Gänge des Flughafens
zu einem noch endloseren Weg
in ein Zimmer mit dumpfem Licht und
schäbiger Farbe
mit einer einzigen Lampe
und einem einzigen Stuhl.
Meinem Koffer gebe ich Wohnstatt auf dem Schrank,
an die Wände zwischen den Rissen hänge ich
ein paar Jahre.
Ich bleibe mit meinen Füßen auf dem kalten Boden
und suche nach einem Teppich,
nach einem Streichholz,
dann nach Socken und Schuhen.

4

Das Salz in meiner Hand hat sich aufgelöst,
die Brotreste sind trocken geworden.
Das Parfum wird aus der Wärme
meiner Brust hervorgeholt.
Es soll das Ritual vollziehen
und den Ort wiederbringen.
Für die Seele des Zimmers versprühe ich es
und schließe die Augen.

Ich zittere.
Ich nehme Kleidung aus meinem Koffer
und hülle mich in meine Last.
IIch lege eine mitgebrachte Kassette ein,
um damit die Risse des Ortes zu kitten.

Ich blicke aus dem beschlagenen Fenster,
alle Fenster sind noch immer geschlossen
und auch die Türen.
Die Straße ist verlassen,
in weiter Entfernung das Geräusch
einer Straßenbahn,
das Rattern eines Zuges auf einer Brücke.
Ich nähere mich dem Anblick des Ortes
und verliere mein Gefühl für die Zeit.
Ich vergaß, meine Uhr aufzuziehen,
und sie ist stehengeblieben.
Ich erinnere mich, daß mich die Welt
in ihrem Sonnenuntergang hierherbrachte.

5

Ich zünde eine Kerze an
und sehe meinen mir vertrauten Schatten
an der Wand zwischen den Nägeln,
den Rissen
und den aufgehängten Jahren.
Ich schätze die neue Zeit
und stelle meine Uhr.
Ich betrachte die Fotos
von Familie und Freunden
und lese den eilig
- nur einen Augenblick vor meiner Abreise –
geschriebenen und noch rasch
in meine Tasche gesteckten Brief.

6

Ich denke an die Freunde,
die mir gratulierten, sich verabschiedeten
und mich um mein Glück beneideten,
wo ich doch reisen würde!

Ich erinnere mich an den Klang der Teegläser,
an die Stimmen, die sich mit
dem Lachen, Grüßen und dem Abschied vermischten,
an das Briefpapier
und die Versprechen zu schreiben.
Ich erinnere mich an meine Versuche,
den letzten Reisevorbereitungen
auszuweichen.

7

Am nächsten Tag verschwindet die Sonne
und macht es sich zur Gewohnheit,
abwesend zu sein.
Die Wolken beherrschen den Himmel.
Von Zeit zu Zeit suche ich nach seinem Blau
und entschwinde über den Wolken.
Sie sagen, ich sei ein Gläubiger,
ein Träumer, ein Verrückter.
Sie übersehen das Beben meiner Augenlider,
meine Schritte auf dem weißen Boden.
Jeden Tag
kenne ich den Weg zur Post,
mit meiner Geldbِrse voller Adressen,
ein paar Briefmarken,
Telefonmünzen
und Tee ohne Minze.
Ich kehre mit einem kleinen Schlüssel zurück,
und es wird zu meiner Sucht,
den Briefkasten jedesmal zu öffnen,
wenn ich daran vorbeikomme.

8

Ich ändere meine Art, jemanden zu begrüßen,
ich mache es kürzer,
ich ändere meine Buchstaben und
meine Sprachmelodie.
Mein Herz versagt beim Nachahmen.
Man ärgert sich über meine Unpünktlichkeit.
Sie übersetzen mein "in sha'a Ilah"
mit "vielleicht",
ich übersetze ihr "nein"
mit "in sha'a Ilah".
Das Wasser schmeckt anders,
die Gefühle geraten durcheinander,
das Auge, das am Taxifahrer vorbei
auf den Stadtrand gerichtet ist,
wird einen langen Traum sehen.

9

Ich werde den Geruch der Donau lieben,
mich an die Buchstaben der Menschen gewöhnen,
das Meersalz wird sich in ein anderes verwandeln,
der Geschmack des Wassers wird
meinen Durst nach Zeit und Ort betäuben,
doch die Haut wird sich weiterhin beschweren,
weil sie diese Wolle nicht mehr aushalten kann
und all diese Hüllen.
Der Mund haßt das verlogene Lächeln vor Gästen.

10

Die Stimmen am Telefon
durchdringen meine Knochen,
die Brust sucht nach ihrem Parfum,
um sich vor der Kälte ihres Inneren zu schützen.

Die Haut empِört sich über ihre Hülle aus Wolle,
ihr Schweiß ist verschwunden.
Sie rebelliert und umarmt
eine alte Tätowierung von Ain Shams.

11

Der Regen der Welt,
die mit mir im Sonnenuntergang
jenes Tages gelandet war,
ist eine Frage,
die das Weiß auf den Boden bringt.
Nachts schließe ich das Fenster
vor der Dunkelheit der Welt.
Ich beschließe, eine strahlende Lampe zu kaufen,
und öffne das Wörterbuch, um zu fragen.

12

Die Freude hat der Winter weggeschlossen,
die Wolken warten.
Ich träume von alten Orten in neuen Zeiten
und wache für die tägliche Erschöpfung auf,
die in meinen Kleidern auf mich wartet.
Mein Traum verhöhnt mich
in meinem Koffer auf einem schäbigen Schrank
in einem Zimmer, betrunken
von den Tagträumen der Verrückten
und vom Irrsinn der Träume in der Nacht.

13

Jetzt warte ich auf das Abheben von der Welt
in die Morgendämmerung eines Tages,
in dem die Stimmen lebendig werden,
Salz in einer Hand
und Parfum in der anderen
an einem klaren Tag,
der wiederkommen wird.

Ich werde über der Welt sein mit meiner Last für ein paar Stunden, um mit ihr bei der Sonne zu landen.

Wien, im langen Winter 1996

Erschienen in Manuskripte. Zeitschrift für Literatur. Heft 143, 1999.