Die Emigration der Nacht aus dem Tag

Cover Diwan

Die Nacht emigrierte aus der trostlosen Stadt
und hinterließ ihr die erschöpften Tage.
Sie nahm ihren Mond, ihre Sterne und ging.

Die Stadt freute sich über das Licht und
blieb tagelang wach.
Als sie müde wurde, fand sie die Nacht nicht,
in der sie sich hätte ausruhen können.

Der Tag emigrierte aus der erschöpften Stadt
und hinterließ ihr das Nichts.
Er nahm seine Sonne, seinen Lärm und ging.
Er hörte nicht auf, überall nach der Dunkelheit
zu suchen,
die ihm die Zeit einteilte.
Der Tag wurde müde und wußte nicht,
wie und wann und wo er schlafen sollte.

Irgendwo, an einem Ort, in dem sich die Zeit verirrt hatte, fand ein kleines Kind einen verrosteten Schlüssel; darauf ein paar Zeichen, die Weissagung einer Wahrsagerin aus Siwa: Am Beginn der Zeit schlich sich die Nacht in der Abenddämmerung davon, um im Meer zu baden. Sie fiel hinein und war gefangen. Der von der Dunkelheit geforderte Preis für ihre Freilassung war, daß sich die Sonne fortan jedesmal, wenn der Abend dämmerte, an den Tisch des Meeres begeben müsse.

Wien,23. 10. 1993

Erschienen in Diwan. Zeitschrift für arabische und deutsche Poesie. Mai 2002.