An einer Haltestelle

Cover Literatur und Kritik

An einem sehr heißen Tag
stand ich zu Mittag
an der Haltestelle einer Straßenbahn,
die nicht kam.
Eine nackte Haltestelle,
eine ohne Schatten.
Da tauchte ein Hund mit dichtem Fell auf.
Er war allein.
Hechelnd zog er zwei Runden um mich,
so als würde er mich mit einem Seil fesseln wollen,
bevor er sich in meinem Schatten niederließ,
um mich damit noch einmal festzubinden.
Ich beobachtete ihn eine Weile.
Von seiner rosigen Zunge fielen
kleine Tropfen
in der Farbe des Schattens herab.
Er hechelte noch immer,
und ich hielt noch immer Ausschau
nach einer Straßenbahn,
die nicht kam,
während ich daran dachte,
ein Bild zu malen
von einem Menschen und einem Hund
an einer Straßenbahnhaltestelle,
die beiden durch einen Schatten
und ein unsichtbares Seil aneinander gekettet,
durch einen Schatten,
der allmählich immer länger wurde.
Und ich zerbrach mir den Kopf,
wie man wohl dieses „Allmählich“ malen könnte.

Wien, 05.07.2003

Erschienen in Literatur und Kritik, (neue Lyrik aus Österreich), Salzburg März 2006.