Leben in Wien: Gedanken nach fast 17 Jahren

Menschen

Zwischen zwei Heimaten

Ich bin in Ägypten geboren und aufgewachsen. Meine Mutter hat sudanesische Vorfahren, die schon Anfang des 20. Jahrhunderts nach Kairo eingewandert waren. Mein Vater hatte den Sudan im Jahre 1952 verlassen, und ich verließ nun Kairo im Jänner 1984 mit einem Koffer, in den ich ein paar Kleidungsstücke, Fotos von Familie und Freunden, ein paar Musikkassetten und Bücher gepackt hatte. Ich nahm Abschied von meiner Familie und vom warmen Licht der südlichen Sonne, die ich erst nach dreieinhalb Jahren zum ersten Mal wiedersehen sollte. Einziges Ziel meiner Reise war damals, mein Studium fortzusetzen und nebenbei das Geld zum Studieren zu verdienen. Im Sonnenuntergang eines Tages in einem tiefen Winter, Salz in einer Hand, Brotreste in der anderen, die Erinnerung in meinem Herzen und unter dem Hemd an meiner Brust eine Flasche Parfum, die den Ort zurückholen soll, an dem ich war.

Ich bin mit meiner Last über der Welt für ein paar Stunden, um plötzlich mit ihr in Schwechat zu landen.

Ich bin mit meiner Last über der Welt für ein paar Stunden, um plötzlich mit ihr in Schwechat zu landen. Als ich mich zu diesem Auslandsaufenthalt entschieden hatte, war mir klar, dass mein Vorhaben nicht einfach werden würde. Ich hatte über Europa, die Menschen dort und ihre Lebensart gelesen und gehört, so dass mich vieles von den Äußerlichkeiten und dem Erscheinungsbild der Stadt nicht sonderlich überraschte. Schockiert war ich vom selbstverständlichen Anspruch dieses Europa und seiner Menschen, als überlegene und richtungsweisende Kultur und Gesellschaft gegenüber anderen Kulturen, wie beispielsweise meiner, zu gelten. Und schockiert war ich auch von der Tatsache, dass die Realität gar nicht meinen Vorstellungen über die Durchführung meiner Pläne entsprach, die nichts anderes beinhaltet hatten, als hier mein Studium fortzusetzen und abzuschließen und dabei ein „normales“ Leben zu führen. Nun war ich hilflos und fühlte mich wie ein Kleinkind, das laufen lernen muss.

Das „normale“ Leben war nicht leicht zu bewältigen und wurde des öfteren zur Überlebensfrage, das Studium wurde wesentlich langwieriger und schwieriger, als ich erwartet hatte, und die neue Sprache konnte ich mir nicht zurechtbiegen, wie ich mir das wünschte, denn dadurch wäre mir das Leben und vor allem das Studium leichter gefallen. So mühte ich mich die ersten Semester mit österreichischer Verfassung und Bürgerlichem Recht ab, verbrachte oft stundenlang über einer Seite, um zu verstehen, was da stand, und dann sollte ich das ja auch noch wiedergeben können. An der Universität fiel mir oft auf, dass man mich freundlicher behandelte, wenn ich die Frage, ob ich nach dem Studium wieder zurückkehren würde, mit einem Ja beantwortete.

Wenn man die Sprache seiner Umgebung nicht versteht, so verstärkt sich das Gefühl des Fremdseins. Um ein wenig gegen die Isolation anzukommen und das Gefühl der Zerrissenheit zwischen den Orten und Zeiten zu kitten, begann ich zu schreiben.

Ich hatte mich schon früher ab und zu in Ägypten im Schreiben versucht, damals von klassischer arabischer Poesie beeinflusst und darum bemüht, die Höhen und Tiefen des ersten Verliebtseins zu Papier zu bringen. Nun – nach vier Jahren Aufenthalt in Wien – begann ich wieder zu schreiben, dieses Mal, um einerseits einen Ausgleich zwischen dem Hier und dem Dort zu finden und andererseits war es auch ein Ersatz für die so seltenen Gelegenheiten, mich in meiner Muttersprache auszutoben.

Da ich lange Zeit die Bedeutungsnuancen bestimmter Worte nicht verstand oder den sarkastischen Unterton nicht erfassen konnte, erschienen mir manche Menschen netter als sie tatsächlich waren. Mit den Jahren wurde vieles klarer, und die Ernüchterung traf mich oft völlig unerwartet. Ich bemühte mich immer mehr, mich auf den Kontext der Wörter zu konzentrieren, um dahinter zu kommen, wie nun etwas gemeint sein könnte. Allmählich wurde mir klar, dass die Menschen hier oft nicht offen aussprechen, was sie meinen, und wenn man zu verstehen gibt, dass man ihre Andeutung mitbekommen hat, dann erklären sie rasch: „So war das nicht gemeint.“

Anfangs empfand ich also die Fremdheit der anderen und meine eigene hier in erster Linie durch meine „Sprachlosigkeit“. Natürlich musste ich mich auch an die Tatsache gewöhnen, dass meine Hautfarbe Blicke auf mich zieht. Doch man lernt hier sehr rasch zu unterscheiden, ob ein Blick Neugier, Angst oder Abscheu enthält. Ich erlebe oft Menschen in Straßenbahnen, die den Kopf schütteln, nur weil ich einsteige, und wenn ich ihnen dann ins Gesicht sehe, sich sofort abwenden. Ich musste lernen, damit umzugehen, besser gesagt, es zu übersehen. Ab und zu aber werde ich innerlich zornig, weil mir keine Möglichkeit einer Verteidigung oder Richtigstellung gegeben wird. Allerdings, wofür sollte ich mich eigentlich verteidigen, was sollte ich richtig stellen?

Neue Schneidermeister

Es sind neue Schneider-
meister aufgetaucht, die ein neues Schnittmuster für eine österreichische Identität basteln.

Ich lebe nun fast 17 Jahre in Österreich und musste in den letzten Jahren eine starke Veränderung im Umgang mit Fremden feststellen. Ich möchte nicht behaupten, dass es vorher keine Fremdenfeindlichkeit oder keinen Rassismus gab, doch im Unterschied zu früher kann man heute ganz offen und aggressiv gegenüber Fremden vorgehen und hat dabei die Akzeptanz vieler, man könnte fast schon sagen, der schweigenden Mehrheit, hinter sich. Es sind neue Schneidermeister aufgetaucht, die ein neues Schnittmuster für eine österreichische Identität basteln, um damit klar unterscheiden zu können, wer zu „uns“ gehört und wer nicht. In diesem Sinne wäre für mich selbst eine von mir prinzipiell abgelehnte Assimilation sinnlos, denn meine Hautfarbe würde mich ausschließen, selbst wenn ich einen Trachtenhut am Kopf haben würde und jodeln könnte. Leider schweigt die Mehrheit angesichts dieser Entwicklung, da sich keiner persönlich betroffen fühlt.

Aufgrund der jüngsten innenpolitischen Ereignisse fanden sich nun einige Österreicher im Ausland zum ersten Mal in der Rolle des Unerwünschten, des wahrscheinlich zu Unrecht beschimpften „Rassisten“ oder „Nazis“ und mussten am eigenen Leib spüren, wie sich stupide Pauschalisierung und Vorurteile anfühlen. An einem Taxistand hörte ich Taxifahrer darüber diskutieren, dass angeblich belgische Kollegen keine Österreicher transportieren wollten, und als gerade ein Afrikaner vorbeikam, meinten sie: „Na, den nehmen wir ganz sicherlich nicht mehr mit, der kann zu Fuß gehen.“ Ganz nach dem Motto „Mia san mia, und jetzt erst recht.“ Ich befinde mich hier in mehreren Kreisen, denen ich aus verschiedenen Gründen angehöre: in einem ägyptisch-sudanesischen oder sudanesisch-ägyptischen (?) aufgrund meiner Herkunft, in einem arabischen aufgrund der Muttersprache, in einem islamischen aufgrund meiner religiösen Herkunft und gemeinsamer Feste und Traditionen, in einem afrikanischen aufgrund meiner Hautfarbe, in einem akademischen aufgrund des Studiums und meiner Unterrichtstätigkeit usw. usw. All das sollte nach
17 Jahren in einem österreichischen Kreis eingebettet sein, doch diese Hülle fehlt bis jetzt. Man teilt mich je nach Zusammenhang einer Kategorie zu und macht mich zum Angehörigen einer Minderheit am Rande der Gesellschaft. Ich habe die österreichische Staatsbürgerschaft erworben, aber es wäre verwegen zu glauben, dass ich dadurch auch als ein Österreicher gelte. An den Grenzen dieser Welt werde ich nun menschlicher als früher behandelt, als ich noch mit einem sudanesischen Pass unterwegs war. Wenn ein österreichischer Beamter meinen österreichischen Ausweis kontrolliert, dann wird mir meistens die Frage gestellt: „Aber woher kommen Sie denn nun wirklich?“ Als vor kurzem ein sudanesischer Mann und sein dreijähriger Sohn im ersten Bezirk von Skinheads angegriffen und verprügelt wurden und ihnen lange Zeit kein einziger Mensch zu Hilfe kam, schoss mir im ersten Moment der Gedanke durch den Kopf, dass die vielen Menschen da am Rathausplatz und Umgebung diese Gewalt im Grunde ihres Herzens gut heißen müssen, sonst hätten sie doch anders reagiert, und ob ich dann noch weiter in diesem Land leben könnte.

Wenn man nach Wien kommt, liest man auf einem riesigen Schild „Wien ist anders“. Womit vergleicht man hier eigentlich? Das Motto des Wiener Integrationsfonds heißt „Wir alle sind Wien“. Und oft höre ich „Mia san mia“. Wie soll ich nun diese Sätze verstehen? Ist Wien anders, weil wir alle Wien sind, obwohl mia mia san, oder weil mia mia san, ist Wien anders, und können wir dann alle Wien sein?

Jede Kritik von mir an dieser Gesellschaft ist ein Zeichen dafür, dass mir das Hier etwas bedeutet, dass ich nicht mehr nur ein Gast in diesem Land bin. Gleichzeitig fühle ich bei jedem Besuch in der „alten Heimat“ von Mal zu Mal mehr Entfremdung, da sich für mich dort alles verändert hat. Die ersten Jahre habe ich mich über vieles aufgeregt, das ich nicht richtig fand, doch allmählich wurde meine Kritik gemäßigter und seltener, und ich musste feststellen, dass ich von Jahr zu Jahr mehr zu einem Gast und damit auch ein wenig zu einem Fremden wurde.

Während meines Aufenthalts in Ägypten sage ich nun: „Ich freue mich auf zu Hause“, oder „das muss ich mir dann zu Hause in Ruhe überlegen“, und meine damit Wien. Meine Frau machte mich einmal darauf aufmerksam, dass ich in Ägypten „bei uns“ sage, wenn ich von Wien spreche, und in Wien „bei uns“ verwende, wenn ich Kairo meine. Sie fragte mich, wo denn nun eigentlich dieses „bei uns“ für mich sei. Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es beides für mich bedeutet. Ich lebe zwischen oder in zwei Kulturen und zwei Heimaten, und ich bevorzuge keine der beiden und könnte auch keine der beiden aus meinem Leben streichen.

Verantwortung für das Hier

Doch wenn ich Dinge kritisiere, dann bedeu-
ten sie mir etwas und gehen mich etwas an.

Wenn ich Dinge hier kritisiere, die meiner Meinung nach verändert werden sollten, dann höre ich sehr oft, warum ich denn dann nicht zurückkehre. Und wenn ich das Hier lobe, dann werfen mir wieder andere vor, dass ich mich assimiliert, meine Identität aufgegeben hätte.

Doch wenn ich Dinge kritisiere, dann bedeuten sie mir etwas und gehen mich etwas an. Ich fühle mich für das Hier mitverantwortlich und würde mir wünschen, dass man diese Bereitschaft zur Mitverantwortung auch annimmt. Und auch wenn ich etwas lobe, dann meine ich es ernst damit, denn sonst wäre ich nicht hier geblieben.

Ich hatte nicht erwartet, dass mir die verlorene Wärme durch eine andere hier ersetzt werden könnte, ich hatte nicht gedacht, dass ich hier heiraten und mit einer Frau von hier leben würde, dass ich die deutsche Sprache jemals lieben würde und halbwegs sprechen könnte, dass es mir gelingen würde, die langen Winter durch „Errungenschaften der modernen Zivilisation“ und mit Hilfe von dicker Kleidung, die ich meine Winterwaffen nenne, zu überlisten. Anfangs war ich davon überzeugt, nach Abschluss meines Studiums zurückzukehren. Doch ohne es zu merken, hatte ich begonnen, Wurzeln zu schlagen.

Hier wurde es mir möglich, viele für mich neue Dinge kennen zu lernen und zu entdecken. Ich schätze es, in Ausstellungen zu gehen, Konzerte zu besuchen, zu reisen, offen über vieles diskutieren zu können. Manchen mögen meine beiden „Welten“ als zu große Gegensätze erscheinen, für mich aber ist das nicht so. Ich vermische meine Liebe zur arabischen Kalligraphie mit der zu den Gemälden von Gustav Klimt oder Egon Schiele, ich höre Sayyid Darwish und dann Mozart oder Schubert, ich kann Nagib Mahfouz in arabischer Sprache lesen, Thomas Bernhard in deutscher. Mit großer Leidenschaft genieße ich die Knödel meiner Schwiegermutter ebenso wie den Fisch meiner Mutter. Meine Ohren können mehr hören, meine Augen mehr sehen, mein Geschmack und mein Wissen erweitern sich jeden Tag, die beiden Heimaten bereichern mein Leben und lassen mich über den jeweiligen Horizont blicken.

Ich werde den Geruch der Donau lieben,
mich an die Buchstaben der Menschen gewöhnen,
das Meersalz wird sich in ein anderes verwandeln,
der Geschmack des Wassers wird meinen Durst nach Zeit und Ort betäuben,
doch die Haut wird sich weiterhin beschweren,
weil sie diese Wolle nicht mehr aushalten kann,
und all diese Hüllen.

Die Verse stammen aus dem Gedicht „Risse eines Ortes” aus „Ein mit Tauben und Gurren gefüllter Koffer”. edition selene, Wien 1999.


Erschienen am 15. 9. 2000