Zeit der Nordwanderung

Ein Migrantenschicksal aus der Innensicht.
Stefan Weidner – Neue Zürcher Zeitung – 30.01.2001

„Vom Dorf - In die Stadt - In eine andere Stadt - In andere Städte - Ins Dorf“, so lauten, den Inhalt zusammenfassend, die Kapitelüberschriften von Tarek Eltayebs kurzem Roman „Städte ohne Dattelpalmen“. Das Dorf liegt im Sudan. Zu Beginn sehen wir den Erzähler, einen jungen Mann namens Hamza, wie er mit einem dünnen Ast Linien in den Staub kratzt und nachdenkt. Der Boden ist ausgetrocknet, es herrscht Dürre. Hamza ist zornig auf den Vater, weil er sein Geld in der Stadt verdient, ohne von sich hören zu lassen: „Mein Druck auf den dürren Ast wird stärker, bis er bricht und wieder bricht und meine Fingerspitzen schliesslich den rissigen Boden berühren.“

Zwei kleine Schwestern hat er, sie leben bei der Mutter. Er fühlt sich jetzt für die Familie verantwortlich und beschliesst, ebenfalls in die Stadt zugehen. Vorher, in einem der wenigen glücklichen Momente dieses Romans, der gänzlich im Zeichen der Armut steht, spielt er ein letztes Mal mitseiner Schwester: «Mit dem Kopf voran lasse ich sie nach unten gleiten, halte sie an den Beinen fest und rufe: ‹Jetzt fresse ich dich auf!› Sie lacht ausgelassen und strampelt mit den Beinen.»

Erzählt wird im Präsens. Irgendein Abstand zu den Ereignissen besteht nicht. Selten ist die Literatur so nah an der Armut. In der Stadt (Jobs gibtes nicht für einen wie ihn) lässt sich Hamza von einer Diebesbande anheuern, doch bald springt er ab. Einmal steht jetzt das Schicksal auf seiner Seite, ein Händler stellt ihn ein, und gemeinsam mit dessen zweiter Frau, die dort arbeiten muss, weil sie angeblich unfruchtbar ist, verkauft er Gemüse. Es gibt ein kurzes Glück, als sie sich verlieben („Mein Herz springt wie ein Fisch im Trockenen“), doch kaum ist die Frau schwanger, reklamiert der Händler sie wieder für sich, was durchaus in ihrem Sinne ist - mit Hamza hat sie ja keine Zukunft. Er klaubt seine Ersparnisse zusammen und fährt mit Zug und Schiff „in die andereStadt“, nach Kairo, wo er eine gut gelaunte Schmugglerbande trifft. Auch hier ein Moment Frohsein, illustriert durch einige pikareske Elemente, bis die Freunde von einer Tour nicht wiederkehren. „Die anderen Städte“ schliesslich liegen in Europa. Hier findet er von Zeit zu Zeit Arbeit, aber die Gesetze bricht er gleichwohl, weil er illegal ist. Als einer seiner Mitstreiter einen anderen um seine Ersparnisse prellt, kauft er sich aus Hoffnungslosigkeit und Heimweh ein Flugticket. Doch seine Mutter und die Schwestern, denen er immer Geld schickte, sind schon lange tot, Opfer der Cholera. Ein Grab gibt es nicht. Stellvertretend für sie bestattet er die beiden Puppen und das Armband, die er als Geschenke für die drei mitgebracht hatte.

Man muss diese mit kunstvoller Schlichtheit und ohne Larmoyanz erzählte Geschichte lesen, will man das, was man täglich über Hungersnöte und Migrationsproblematik zu hören bekommt, einmal aus der Perspektive der Opfer sehen. Tarek Eltayeb, der 41-jährige, in Wien lebende Sudanese, wandelt, indem er dies erzählt, zugleich einen der klassischen Stoffe der modernen arabischen Literatur ab, die „Nordwanderung“. Herkömmlich ist der Held ein arabischer Studentoder Intellektueller, der nach Europa geht, dort mit der anderen Zivilisation konfrontiert wird, schliesslich zurückkehrt und mehr oder minder erfolgreich sich mit der eigenen Kultur zu arrangieren versucht. Das berühmteste Beispiel dafürist der Roman eines anderen Sudanesen, Tajjib Salichs epochemachende „Zeit der Nordwanderung“ von 1967 (dt. Lenos-Verlag 1998). Wieanders nun „Städte ohne Dattelpalmen“! Kein faustischer Überflieger auf der Suche nach Wissen ist es, den es nach Norden treibt, sondern ein einfacher Bauer auf der Suche nach Brot.

Der Held bei Salich wird aus freien Stücken kriminell (das waren noch Zeiten!), Hamza begeht Mundraub. Es ist eine ungleich aktuellere Version der „Nordwanderung“, ein Beispiel dafür, wie ein literarischer Stoff von der Wirklichkeit, dem Migrationselend, regelrecht aufgefressen wird oder vielmehr sogar, um ein letztes Mal noch erzählt zu werden, sich selbst verschlingt. Manmuss dieses Buch empfehlen, von so trauriger Konsequenz es auch ist. Und sollte sich dies, ohne abschätzig zu klingen, sagen lassen, Kindern sei es als heimliche Erziehung zum anderen Blick ebenfalls nahe ans Herz gelegt.