Am Abgrund der Gewissheit

Tarek Eltayeb: Das Palmenhaus. Berlin: Verlag Hans Schiler 2007.
Ders.: Städte ohne Dattelpalmen. Wien: edition selene 2000.

Von Helmut Neundlinger – Wespennest, Nr. 147, 2007

Der Begriff des Ortes bestimmt sich in der Literatur weder rein geographisch, noch bezeichnet er im herkömmlichen Sinn jene Lage, in der man sich räumlich befindet. Literarische Orte sind keine feststehenden, exakten Werte, sondern vieldeutige Passagen, Punkte der Transgression, prekäre Konstruktionen einer flüchtigen Imagination. Niemand weiß das besser als Migranten, Flüchtlinge oder Ausgesiedelte. Was sich aus dem Blickwinkel einer „zu sich gekommenen“, stabilen Gesellschaft als unerträglicher Ausnahmezustand ausnimmt, ist für viele davon Betroffene lebenslange, alltägliche Realität. Die Ursachen existenziellen Ver- bzw. Getriebenseins sind ebenso mannigfaltig, wie ihren Folgen eine oft ausweglose Gleichförmigkeit anhaftet: Materielle, humanitäre, ökologische und gesellschaftliche Katastrophen ziehen Menschenströme nach sich, die in den seltensten Fällen an irgendeinem Punkt „glücklich ankommen“. Das Wort „Exil“ ist ein Euphemismus angesichts der irreversiblen Deterritorialisierung der Betroffenen.

Literarische Arbeit an solch sprachlos machenden Erfahrungen setzt genau bei dieser Unversöhnlichkeit an. Zu tief sitzt die Verstörung über das Erlebte, zu absolut erscheint der Tod kleinerer sozialer Systeme ebenso wie ganzer Gesellschaften in jedem Versuch, davon zu berichten. Im posttraumatischen Erzählen zeigt sich mitnichten die Geste der Versöhnung, sondern eine Verständigung über das Zurückliegende, die im Angesicht des Erlittenen zu sich selbst auf Distanz geht, um gerade darin wiederum eine Beziehung zum eigenen Erleben zu entwickeln und an die seelischen Verschüttungen anzuschließen, denen man ohne eigenes Verschulden ausgesetzt war bzw. ist. Imre Kertesz hat für einen solchen Prozess den Begriff der „Schicksallosigkeit“ geprägt. Auch wenn die Erfahrung des Holocaust aufgrund der industriellen Massenvernichtung eine historische Einzigartigkeit darstellt, erscheint dieser Begriff als Matrix für ein Erzählen, wie wir es in Tarek Eltayebs Roman „Das Palmenhaus“ finden. Der Text ist die Fortsetzung des narrativen Projekts, das Eltayeb mit seinem vor sieben Jahren erschienenen Debütroman „Städte ohne Dattelpalmen“ aufgenommen hat. Wir finden darin eine ebenso persönliche wie exemplarische Annäherung an die historisch und politisch viel zu wenig untersuchte afrikanische Diaspora samt deren Wurzeln in der doppelten Kolonialisierung durch Christentum und Islam. Diesbezüglich liefert uns die Geschichte des Protagonisten Hamza, eines Flüchtlings aus einem sudanesischen Dorf, wertvolle Anschlusspunkte. Während der selbst aus dem Sudan stammende, in Ägypten aufgewachsene und seit mehr als zwanzig Jahren in Österreich lebende Eltayeb in „Städte ohne Dattelpalmen“ eine schmale Erzählung vorgelegt hat, die gerade durch die atemlose Unmittelbarkeit des Erlebten überzeugte und Hamza einer Handkamera gleich in die Stationen seiner Illegalität folgte, markiert sein neuer Roman „Das Palmenhaus“ den Versuch einer stärker reflektierenden Aufarbeitung der vorübergehenden wie endgültigen Untergänge der Hauptfigur bzw. jener Gesellschaft, aus der sie stammt.

Man kann die feine (Selbst-)Ironie kaum überlesen, die in der Grundkonstellation des Romans steckt: Der titelgebende Ort, das Palmenhaus im Wiener Schloss Schönbrunn, architektonisches Symbol einer als harmloser Exotismus getarnten herrischen Inbesitznahme fremder Lebensräume, wird zur Projektionsfläche der eigenen Geschichte, deren gewaltvolle Sinnlosigkeiten und (Selbst-)Verluste sich in einem Kertesz‘schen Sinn eben nicht zu einem „Schicksal“ zusammensetzen. Dafür entstehen in der Auseinandersetzung mit seiner Herkunft umso deutlichere Konturen jener unkittbaren Risse und Brüche, die Hamzas Leben und Welt im Kontrast zum künstlichen Paradies des Palmenhauses so unwirklich erscheinen lassen, dass er sich lange wie „einer ohne Geschichte“ vorkommt, einer der „aus dem Nichts gekommen“ zu sein scheint.

In der kleinen, vermeintlich heilen Welt seines Dorfes, das von Krieg und Hunger ausgelöscht wurde, während er in Europa sein Glück suchte, beginnt er schon die Zeichen jener Entfremdung zu entziffern, die unausweichlich in der kollektiven Auslöschung enden. Unverhohlen zeigt sich im Durcharbeiten von Kindheitserlebnissen die Sackgasse jener Islamisierung, die dort fortsetzt, wo das Christentum schon lange gewütet hatte: in der brutalen, verständnislosen Unterdrückung älterer afrikanischer Kulte und Traditionen. Die streng am Monotheismus ausgerichteten religiösen Systeme zwingen den Unterworfenen ihr Konzept von rigiden Identitäten auf und stoßen sich vor allem daran, dass die traditionellen Kulturen die lebendige Erfahrung von Ambivalenz in ihre symbolische Sprache integrieren, anstatt diese als Übel zu bekämpfen und auszurotten. So erinnert sich Hamza im Palmenhaus etwa daran, dass er in der Nähe seines Dorfes im Sand einmal eine Statue mit einem Löwenkopf findet, „in dessen weit aufgerissenem Maul der Kopf eines Menschen steckte. Im Gesicht des Menschen mischten sich seltsamerweise Furcht und Lust.“ Eine solche Zweideutigkeit kann Sheikh El-Faki, Anführer der islamischen Fanatiker, nicht gelten lassen. Mit Spitzhacken und Hämmern schlagen er und seine Gefolgsleute auf die Götzen aus der „Zeit der Unwissenheit“ ein, wie sie die vorislamische Epoche abfällig nennen, und wähnen sich dabei fortschrittlich und gerecht.

Angesichts solch früh in die Seele des Protagonisten eingeschriebener symbolischer Gewalt nimmt sich die narrative Bewegung des Textes wie eine groß angelegte Suche nach der unter den buchstäblichen Verwüstungen verloren gegangenen Seele aus. In stiller Obsession kehrt Hamza wieder und wieder ins Palmenhaus zurück wie in das schützende Gehäuse eines inneren Monologs. Im Bewusstsein der unwiederbringlichen Verluste und dabei täglich konfrontiert mit den Bedrängungen des Außenseitertums in einer nicht nur physisch kalten mitteleuropäischen Großstadt, enthüllt sich ihm wie von selbst der despotische Kern des Systems, das einst seine Identität formte. In dem sinnlos-grausamen Umgang seiner kindlichen Umgebung mit Tieren spiegelt sich ihm seine eigene soziale Inferiorität; gleichzeitig ernährt er sich als Zeitungskolporteur in Wien eine Zeitlang von Katzenfutter, weil die Dosen so billig sind und er die Aufschrift zunächst nicht entziffern kann.

Im Unterschied zur existenzialistischen Linearität seines Erstlings entfaltet sich Eltayebs Erzählen im „Palmenhaus“ komplexer, gewagter. Im Gang der Erinnerung überlagern sich die verschiedenen Erzählstränge und allmählich auch die Orte seines Lebens, ohne sich jedoch zu einem eindeutigen Bild zu fügen. Emblematisch drückt sich diese unauflösliche Spannung zwischen permanenter De- und Reterritorialisierung in folgender Kindheitserinnerung aus: „Die Sonne stand jetzt genau über mir und hatte meinen Schatten verschlungen. Ich konnte den Osten nicht vom Westen und den Norden vom Süden nicht mehr unterscheiden. Je weiter ich mich vorwärts bewegte, umso weniger erkannte ich vom Dorf wieder. Ich kam mir vor wie einer, der etwas gut zu kennen glaubt und dann feststellen muss, dass alles ganz anders ist, als er dachte. Ich stand am Abgrund der Gewissheit und war für einen Augenblick verunsichert, ob ich vielleicht den falschen Weg genommen hatte.“

Über diesen Abgrund hinweg scheint einzig das Erzählen zu führen, was sich in der Konstruktion des Textes als verschachtelter Monolog niederschlägt, der in seinem stillen Beharren an die Gegenwart gerichtet ist. Genauer gesagt: an die Gegenwart eine Frau namens Sandra, die Hamza in Wien kennen und lieben lernt, die ihn bald ins Palmenhaus begleitet und seinen Erzählungen gespannt und aufmerksam zuhört. Von ihr hätte der Leser gern mehr gewusst; nicht alles, weil sich alles ohnehin nie erzählen lässt, aber einiges im Sinn einer Entwicklung ihres Charakters, ihrer Lebendigkeit, die angesichts der dichten Erzählungen von Hamza doch ein wenig zu kurz kommt. Vielleicht ist es ihre stille, grenzenlose Zärtlichkeit, die im Kontrast zur Härte von Hamzas Erzählungen etwas Unwirkliches erhält; vielleicht auch die Tatsache, dass Hamzas unmittelbaren Gefühlen ihr gegenüber vergleichsweise weniger erzählerischer Ausdruck verliehen wird als seinen Erinnerungen und Erlebnissen. Diesem Einwand zum Trotz sei abschließend auf die besondere erzählerische Sorgfalt hingewiesen, die beide Romane durchzieht. Tarek Eltayeb hat sich in der Pointiertheit und Subtilität seines Schreibens und nicht zuletzt durch seine Methode der poetischen Verdichtung zu einer eigenständigen Stimme in der österreichischen Literatur entwickelt, deren wichtigste Impulse in den letzten Jahren immer mehr von den vermeintlichen „Rändern“ des Betriebs kommen. Es wäre an der Zeit, sich vergleichend mit der Reichhaltigkeit der erzählerischen und sprachlichen Mittel von Schriftstellern wie Dimitré Dinev, Vladimir Vertlib, Alma Hadzibeganovic oder eben Tarek Eltayeb auseinander zu setzen, um den Begriff der „österreichischen Literatur“ neu zu bestimmen.