Ein Wienerlied aus Ägypten

Augustin Nr. 203

Von Karin Jahn – Augustin, Nr. 203, 23.5-5.6.07, Wien

Was macht ein Afrikaner in einer Stadt ohne Dattelpalmen? Eh klar. Er geht ins Palmenhaus. Wie aus dem sudanesischen Betriebswirt Tarek Eltayeb ein österreichischer Dichter wurde …

Tarek, in Ägypten aufgewachsen, studiert in Kairo Betriebswirtschaft bis zum Bakkalaureus. Er will das Magisterstudium machen, da aber 1981 in Ägypten Studiengebühren für Sudanesen eingeführt werden, entschließt er sich 1984 nach Österreich zu gehen. Weil es hier keine Studiengebühren gibt. Genauer gesagt: gab. Er weiß, er muss sich seinen Aufenthalt selbst finanzieren. Denn seine Familie ist zwar nicht arm, aber auch nicht reich genug, um sich sein Auslandsstudium leisten zu können. 

Und so arbeitet er, während er Deutsch lernt, als Kronenzeitungsverkäufer. Schon nach einem knappen Jahr beginnt er Arabisch-Unterricht zu geben und lernt dabei seine spätere Frau Ursula kennen. 

Ursula stammt aus dem Waldviertel und studiert Arabistik. Es hätte auch Japanologie sein können. Hauptsache, eine Sprache, mit der man in Österreich nicht Lehrerin werden kann, was ihre Mutter gerne gesehen hätte. Diese war nämlich Lehrerin. 

Ursula ist eine gute Studentin. 1981/ 82 bekommt sie ein Stipendium nach Kairo. Sie interessiert sich für die diversen arabischen Umgangssprachen. Denn Hocharabisch wird im Alltag kaum oder gar nicht gesprochen. Zurück in Wien übernimmt sie das Dissertationsthema „Die Sprache im ägyptischen Rundfunk“. Kein leichtes Unterfangen. Überhaupt, wenn man weit weg vom Schuss ist. Sie sucht vergeblich nach jemandem, der ihr beim Transkribieren der Tonbandaufnahmen helfen kann, und da entdeckt ihr Bruder auf einem Schwarzen Brett Tareks Telefonnummer. Das war im März 1985. 

Und was kam dann? Eine ideale Zusammenarbeit, man entdeckt gemeinsame Interessen und Ansichten, Seelenverwandtschaft, Liebe – jedenfalls ziehen Uschi und Tarek im Herbst zusammen und sind heute noch ein Paar. 
Was soll das?, fragen Sie. Wo sind wir? In einem Kitschroman oder gar im Paradies? 
Sparen Sie sich den Zynismus. In einem sehr bekannten ägyptischen Lied wird Wien tatsächlich als Paradies bezeichnet. Es beginnt so:

Nächte des Glücks in Wien,

ein Hauch von Paradies,

eine Melodie von überirdischem Klang,

die Vögel hören sie und weinen und singen.

Glückseligkeit für Seele und Auge,

lass doch dein Herz sich freuen!

Liebende sind überall,

was fehlt da noch zum Paradies?

Das Lied entstand in den 1950er Jahren, als die berühmte, damals in Ägypten lebende syrische Sängerin Asmahaan Wien besuchte. Asmahaan sei leider, sagt Tarek, viel zu früh gestorben. Aber ihre Stimme bezaubere immer noch die Menschen. Und das Lied vom Wiener Paradies habe er immer schon geliebt – so wie die Hauptfigur seines letzten Romans das tut. Er heißt „Im Palmenhaus“ und ist heuer erschienen.

Ein schwarzer Simplicissimus

Da scheint ja einiges passiert zu sein seit 1985. Machen wir’s kurz: Tarek und Ursula haben geheiratet. Beide haben ihr Studium beendet. Beide haben als Übersetzer, aber auch im Bereich Integration gearbeitet. Ursula tut das heute noch. Beide haben Sprachen unterrichtet, Tarek tut es heute noch, allerdings schon auf der FHS Krems und auf der Uni Graz. 

In der Zwischenzeit hat Tarek zu schreiben begonnen. Auf Arabisch. Obwohl er ausgezeichnet Deutsch spricht. Aber Literatur schreibt er am besten in der Muttersprache, meint er. 

Sein erster relativ kurzer Roman „Städte ohne Dattelpalmen“ handelt von einem jungen Sudanesen, der sich, weil sein Dorf allmählich zur Wüste wird, in die weite Welt aufmacht, um für seine Mutter und seine Schwestern Geld zu verdienen. Sein Vater hat schon längst das Weite gesucht. Hamza ist ziemlich ahnungslos, aber gescheit, ein schwarzer Simplicissimus sozusagen. Als er wieder heimkommt, ist seine Familie tot und sein Dorf im Sand verschwunden. 

Ein alltägliches sudanesisches Schicksal, das aber mit Tareks eigener Lebensgeschichte nichts zu tun hat. Er war nämlich, so sagt er, nur ein einziges Mal – und das ganz kurz – im Herkunftsland seiner Familie. Doch er ist in einem Vorort Kairos aufgewachsen, in dem viele sudanesische Emigranten lebten. Sie waren aus unterschiedlichsten Gründen gekommen und sie hatten ohne große Formalitäten nach Ägypten einreisen und sich dort aufhalten können. Eine Tradition, die noch aus der Zeit stammt, als beide Länder zum britischen Kolonialreich gehörten. Und so hörte er von klein auf viele Geschichten und Berichte, die ihn sehr beeindruckten. 

Apropos Geschichten. Tarek besuchte im Kindergartenalter die Koranschule. Das war insofern ein Vorteil, als die Kinder dort Hocharabisch lernten. Sie hatten es dann in der Volksschule leichter als jene, die nicht in der Koranschule waren. Tarek empfand das aber eher als Nachteil: 

„Wenn die anderen in der Pause spielten, musste ich den Schwächeren Nachhilfe geben. So wollte es meine Lehrerin. Eines Tages kam sie mit ihrem kleinen Sohn in die Schule. Und der war unbeschreiblich. Er rannte ständig herum, stellte absurde Fragen und quälte alle, am meisten seine Mutter. In der Pause bat sie mich, auf ihn aufzupassen. Ich war nicht sehr erfreut, aber alles war besser, als Nachhilfe zu geben. Und damit ich auch was davon hab, erzählte ich ihm halt Geschichten, die mir so einfielen. Keine besonderen. Aber der Bub war wie verwandelt. Er hörte aufmerksam zu und war ganz still. Seine Mutter fragte mich: ,Was hast du denn mit ihm gemacht?’ Ich war selbst total erstaunt. 

Am nächsten Tag in der Pause stürzte er sofort auf mich zu: ,Bitte, erzähl mir noch einmal die Geschichte von dem Löwen und der Dattelpalme.’ Leider konnte ich mich nur mehr dunkel daran erinnern. ,Also,’ sagte ich, ,Löwen sind deshalb so gefährlich, weil sie sich sehr leise anschleichen. Und die arme Bauernfamilie hatte nur wenige Tiere: ein paar Hühner, ein Schaf, eine Ziege. Sie fraßen friedlich vor sich hin. Erst als der hungrige Löwe schon ganz nahe war, bemerkte ihn das Schaf und kletterte vor Schreck die Dattelpalme hinauf ...’, Das stimmt nicht,’ rief der Kleine, ,es war die Ziege. Gestern hast du gesagt, dass die Ziege auf die Palme geklettert ist.’ Peinlich. Aber er hat es mir nicht übel genommen. Und bald war er für mich wie ein kleiner Bruder.“

Unser Geheimtipp: Gemeinsame Lesungen des Paars

Die „Städte ohne Dattelpalmen“ erschienen 1992 in Köln auf Arabisch, die zweite Auflage 1994 in Kairo. Ursula beschließt, das Buch ins Deutsche zu übersetzen. Und es gelingt ihr ganz fantastisch. 2000 wird es dann bei edition selene publiziert, die ein Jahr zuvor schon den Band „Ein mit Tauben und Gurren gefüllter Koffer“ im Programm hatte. Gedichte, Kurzprosa, Träume, Erinnerungsfetzen – auf Deutsch/Arabisch oder Arabisch/Deutsch, je nachdem, ob man von vorne oder hinten zu lesen beginnt. Die deutschen und arabischen Texte treffen einander in der Mitte. Das Umschlagfoto und die Übersetzung stammen von Ursula. Ein kleines Gesamtkunstwerk. Ebenso wie der nächste Gedichtband (2002) „Aus dem Teppich meiner Schatten“, bei dem zusätzlich Tareks Illustrationen einfließen. Er malt nämlich auch. 

Allmählich lernt Tarek immer mehr österreichische Dichter kennen. Er übersetzt zum Beispiel Gedichte von Christian Loidl, Gerhard Kofler und Friederike Mayröcker ins Arabische. Bei der Frankfurter Buchmesse 2004 mit dem Schwerpunkt „arabische Literatur“ ist er als Gast eingeladen. Seine sanfte Stimme ist immer wieder im Radio zu hören. 

Doch am schönsten sind die gemeinsamen Lesungen des Ehepaars Eltayeb. Beide lesen abwechselnd Arabisch und Deutsch. Poesie pur. Sie treten übrigens immer wieder auch in Ägypten gemeinsam auf. Ursula als Arabisch-Spezialistin und Tarek als österreichischer Dichter ... 

Gibt es in Ägypten Rassismus? „Vielleicht nicht so offensichtlich wie in Amerika oder Europa. Es fällt aber zum Beispiel auf, dass nur sehr wenige Schwarze höhere Positionen erreichen. Und es gibt sehr viele Arme unter ihnen. Heute überhaupt. Weil die vielen Kriegsflüchtlinge aus dem Sudan jede Arbeit annehmen müssen. Oft nur für Essen und Schlafen.“ 

Und woher kommt dein Faible für Frauenliteratur und die Frauenseele? „Na ja. Wie ich ganz klein war, waren ständig Frauen um mich. Und die haben sich ihre kleinen harmlosen, aber verbotenen Geheimnisse erzählt. Zum Beispiel, dass sie ohne Wissen der Männer im Kino waren. Und sie haben geglaubt, ich versteh’ sie nicht. Aber ich hab’ diese Geschichten geliebt.“ 

Und wo waren die Männer? „Mein Vater,“ sagt Tarek, „war in Sinai Grenzsoldat.“ Ursula ergänzt: „ Das ist auch eine Gemeinsamkeit, die wir haben: Unsere Väter trugen beide Uniform. Aber bitte keine falschen Schlüsse daraus ziehen.

“ Beide lachen.

Lieblingsort Palmenhaus

Eines Tages entdeckt Tarek im Internet eine Ausschreibung des Elias-Canetti-Stipendiums der Stadt Wien. Die Bedingungen passen – er versucht’s halt. Und er bekommt das Stipendium. 

Inzwischen hat er den 349 Seiten langen Roman „Im Palmenhaus“ beendet: die Fortsetzung der „Städte ohne Dattelpalmen“. Eine Liebesgeschichte, die traurig endet. Eine Collage aus Erzählungen, Erinnerungen, Träumen. Eine 1001-Nacht-Variante mit Rollentausch: Der nicht mehr so naive Hamza ist in Wien gelandet und erzählt seiner Freundin Sandra aus seinem Leben. Ihr Lieblingsort ist das Palmenhaus. 

Doch diesmal gibt es viele Hürden, bis das Buch heraus kommt. Die edition selene gerät in ein Ausgleichsverfahren. Ursula hat wenig Zeit zum Übersetzen, weil sie beruflich sehr ausgelastet ist. Eine weitere Schwierigkeit: In Tareks Text kommen verschiedene Dialekte und Umgangssprachen vor. 

„Wie sollte ich das übersetzen? Wienerisch, Waldviertlerisch, Berlinerisch, Rheinländisch? 
Absurd. Also hab’ ich schließlich eine ,normale’ Sprache verwendet.“ 

Doch endlich ist auch die Übersetzung fertig, und es findet sich ein Berliner Verlag, der den Roman heraus bringt. Der Verkaufserfolg hält sich noch in Grenzen, aber immerhin, der österreichische Bundespräsident hat Tarek – mit fünf anderen Autoren – zum Essen eingeladen. 

Die üblichen Fragen zu stellen, etwa zum Thema Islam, Fundamentalismus, Krieg, Menschenrechte usw., kommt mir blöd vor. Schließlich habe ich Tareks Bücher gelesen. Sie sollten das auch tun.