Der leuchtende Derwisch

Anderswo

Wir sind klein, lachen über unsere Schatten in der Sonne und freuen uns in der Abenddämmerung, wenn wir länger werden. Wir hassen die Mittagszeit mit ihrer Hitze und unsere winzigen Schatten darin. Wir wachsen jede Stunde. Mit Ungeduld erwarten wir den nächsten Tag.

Und es kommt ein Tag. Und er ist seltsam. Die Abenddämmerung ist schon vorüber. Wir sind still geworden, und es ist an der Zeit, voneinander Abschied zu nehmen. Die Nacht bricht herein, ohne daß wir es bemerken. Und der Derwisch tritt unter uns. Er ist riesig. Er spricht kein Wort. Er gibt mit seinen Fingern Zeichen, und wir verstehen. Er zeigt mit seiner Hand zum Himmel. Erwartungsvoll schauen wir hinauf. Er lächelt und streicht sich über seinen dicken, grauen Bart. Eine Wolke zieht im Mondlicht vorüber. Wir sehen Kinder darauf sitzen und schaukeln. Sie winken uns fröhlich zu.

Entzückt stehen wir da. Der Derwisch ist mitten unter uns und spricht in unverständlichen Worten. Er tanzt in unserer Mitte. Er dreht sich mehrmals rasch im Kreis und bleibt dann stehen. Er weist mit ausgestreckten Zeigefingern Richtung Himmel. Wir sehen die Sterne, wie sie hintereinander vom Himmel fallen. Es sind viele. Sie sind klein und hell erleuchtet. Einen Augenblick bleiben sie auf einem seiner Zeigefinger, um dann zu verglühen.

Wir staunen. Der Derwisch wird ein Licht. Wir freuen uns über ihn. Wir stürzen nach Hause und wollen, daß unsere Leute mit uns zum leuchtenden Derwisch kommen.

Sie lachen die ganze Nacht über uns. Immer, wenn uns die Älteren danach begegnen, werden sie uns auslachen und fragen, ob wir noch immer auf den leuchtenden Derwisch warten. Wir warten jede Nacht auf ihn und halten nach den Sternen Ausschau, bis die Alten überzeugt sind, daß wir besessen sind. Da verbieten sie uns, nachts nach draußen zu gehen.

Wir vergessen bald und beschäftigen uns mit neuen Spielen. Aber immer dann, wenn unsere Augen zum Himmel blicken, erinnern wir uns an den leuchtenden Derwisch, einen Derwisch, dessen Finger Sterne fressen und der uns Kinder zurückgelassen hat, um mit den restlichen Sternen zu spielen. Wir warten auf sein Licht.

Eines Tages kommt er bestimmt wieder, und ich werde als lachendes Kind zu den Sternen zurückkehren.

Wien, 12. 2. 1995