Der Ring

Die Fremde in mir

Die Hand war größer als Mabrouks Gesicht, der Schlag lauter als seine Schreie. Es klatschte dreimal hintereinander, und das angstvolle Wehgeschrei ging allmählich in jämmerliche Hilferufe über. Alle nur erdenklichen Flüche und Beschimpfungen stürzten in dem kalten Raum auf Mabrouk ein, doch ganz betäubt von den Schlägen hörte er kein einziges Wort. Die drohende Stimme schoss wie ein elektrischer Schlag durch seine Nervenbahnen, und er verlor die Kontrolle über seinen winzigen, mageren Körper. Warme Tränen flossen, und er versuchte, sie aufzuhalten, doch heute ließ ihn einfach alles im Stich. Seine Schmach wurde noch größer, als er den warmen Strom zwischen seinen Beinen spürte und sah, wie sich langsam unter seinen staubigen Schuhen auf dem Steinboden ein gelber Fleck bildete.

Die Mutter befand sich in Bedrängnis - einerseits machte sie sich große Sorgen darüber, was passieren würde, wenn sie noch länger abwartete, andererseits wollte sie sich lieber aus allem heraushalten, denn sie hatte Angst davor, sich einzumischen. Als sie dann doch ins Zimmer trat, warf ihr Mabrouk einen flehenden Blick zu. Er vermied es, seinen Vater anzusehen, der weiter wilde Drohungen gegen ihn ausstieß, und Mabrouks Lider erzitterten bei jedem einzelnen seiner Worte. Da fasste er den Mut des Verzweifelten und sprang mit einem Satz zu seiner Mutter, um seinen Kopf in ihren Schoß zu vergraben und seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Doch der Vater zerrte ihn gewaltsam wieder zurück, genau über die schändliche Lacke. Dort wiederholte er die Frage, die Mabrouk bis jetzt nicht beantwortet hatte: „Wo verloren?"

Im Nebenzimmer sahen sich seine sechs Schwestern gerade ein Theaterstück im Fernsehen an. Die lauten, undeutlichen Stimmen aus dem Apparat vermischten sich mit ihrem Gelächter. Sie ahmten die Schauspieler nach, versuchten denselben Ton zu treffen und sprachen die Dialoge laut mit.

Mabrouk war das jüngste Kind. Die Tradition hatte seine Mutter zu einer Schwangerschaft nach der anderen gezwungen, bis endlich der Sohn gekommen war, die Quelle für Stolz und Männlichkeit in der Familie. Dieses kleine magere Etwas war in der zweiten Klasse. Mabrouk stach unter seinen Mitschülern durch seine Klugheit und seinen Witz hervor, von seinen Geschwistern hob er sich durch sein Mannsein ab.

Aber im Grunde war er nichts anderes als ein Kind, das sieben magere Jahre - so mager wie sein winziger Körper - hinter sich hatte.

Mabrouks Vater war Taxifahrer. Er hatte von den Behörden die Bewilligung, auf einer bestimmten Strecke Touristen hin- und her zu chauffieren. Nachdem er am Vormittag im Kaffeehaus über sein Leben und seine missliche Lage vor den anderen nur vorsichtig und zurückhaltend gejammert hatte, war er dann laut schimpfend nach Hause zurückgekommen, um vor seiner Frau das zu sagen, was er in der Öffentlichkeit nicht hatte auszusprechen gewagt: “Gott verfluche dieses Land! Kein Monat vergeht, in dem sie nicht tagelang einen Ort sperren und für alle der Zutritt verboten ist. Nicht einmal die Geschäfte dürfen öffnen, und das alles nur wegen dem werten Präsidenten und seinen hohen Gästen. Die wollen alle nur ganz oben sein und dabei ruinieren sie unser Land." Mabrouks Vater stieß diese Worte mit Bitterkeit und in tiefer Verzweiflung aus; laut und drohend wiederholte er seine Frage: „Wo hast du ihn verloren, du Idiot, du Sohn eines Esels?"

Dünne Lippen bebten, die Mundwinkel waren nach unten verzogen. Brennende Augen hielten die Tränen zurück, und die starre Kälte in Hose und Schuhen wurde spürbar. Die Mutter fürchtete sich noch mehr als der verzweifelte Vater vor der Antwort. Schließlich stammelte Mabrouk: „Der ...der ...Prä . ..Präsident."

„Der Präsident?" wiederholte sein Vater und wich argwöhnisch zurück. Nach vorne gebeugt ließ er sich auf der Bettkante nieder.

Nachdem nun der Vater ein wenig aus seiner Reichweite war, fuhr Mabrouk mit gebrochener Stimme fort: „In der Schule mussten wir uns heute alle versammeln, und statt des Unterrichts wurden wir in einem großen Bus weggebracht, um dem Präsidenten und seinem Gast zuzujubeln. Wir mussten ein Bild vom Präsidenten tragen und die Worte im Bus auswendig lernen, die wir ihm später zurufen sollten. Den ganzen Tag sind wir dann an der Straße gestanden, aber er ist gar nicht vorbeigekommen, weil nämlich der Besuch verschoben worden war. Als wir zum Bus zurückgekehrt waren" , er brach ab und wurde von einem krampfartigen Schluchzen erfasst, „hatte ich plötzlich meinen goldenen Ring nicht mehr. Ich fragte meinen Lehrer Sabir, ob ich noch einmal aussteigen und ihn suchen dürfe, aber er erlaubte es mir nicht. Er befahl den Schülern nur, im Bus nachzusehen. Natürlich fanden wir ihn dort nicht, und dann hat er noch gemeint, ich sei schlampig."

Mabrouk verzog seinen Mund nach unten, die Lippen fest aufeinander gepresst. Die Mutter gab keinen einzigen Laut von sich. Kummer hatte ihr Herz erfasst, als sie nun zu ihm kam, um seinen nackten Finger zu betasten. Sie war immer so stolz auf diesen goldenen Ring gewesen.

Zu jeder passenden und auch unpassenden Gelegenheit hatte sie ihn ihm angesteckt. Immer wenn sie das Gold an der Hand ihres Sohnes gesehen hatte, war sie in helles Entzücken ausgebrochen, ständig ihren Kopf albern hin und her wiegend.

Sie hatte den Ring damals mit ihrer Mutter gemeinsam gekauft. Die Großmutter war dafür gewesen, ihn ein wenig größer zu kaufen, damit ihn Mabrouk möglichst lange tragen könnte. Deswegen wurde der Ring zur Hälfte mit einem dünnen Faden umwickelt, um ihn so enger zu machen. Und nun war das nicht eng genug gewesen.

Auch der Vater hatte immer tiefen Stolz empfunden, wenn er Mabrouk von seinem Platz im Kaffeehaus aus zu sich gerufen hatte, dabei laut in die Hände klatschend, um dann glücklich am Ring seines Sohnes zu reiben. Er hatte ihm oft lächelnd befohlen, schnell nach Hause zu laufen und dort bis zu seiner Rückkehr auf den Harem aufzupassen.

Nun erhob sich der Vater niedergeschlagen vom Bett, und bevor er das Haus verließ, murmelte er resigniert: „Du wirst dein ganzes Leben lang ein Dummkopf bleiben."

Mabrouks Schluchzen wurde wieder heftiger. Die Mutter trat neben ihn, doch nur, um neuerlich die für ihn so unerträgliche Frage zu stellen: „Wo hast du den Ring verloren, Mabrouk?"

Als der Vater am Abend aus dem Kaffeehaus kam, befahl er allen, das Videogerät abzustellen und schlafen zu gehen. Sein Befehl wurde sofort ohne Widerrede befolgt. Mabrouks Mutter schickte sich an, heißes Wasser vorzubereiten. Glücklich und auch ein wenig ängstlich lief sie dann ins Schlafzimmer.

Mabrouk musste aufstehen, um seine Blase von ihrer verräterischen Last zu befreien. Er kam am Zimmer seiner Eltern vorbei und hörte durch die geschlossene Tür unterdrücktes Stöhnen und Keuchen. Die schweren Atemzüge seines Vaters mischten sich mit den Worten: „einen Sohn ...einen Sohn. ..einen Sohn."

Mabrouk lief schnell ins Bad. Er entleerte seine Blase in die Wanne, die mit heißem Wasser gefüllt zum Baden vorbereitet worden war, und kehrte dann in sein Bett zurück, um endlich erlöst einzuschlafen.

Wien, 10. 3. 1990