Sie müssen gehen

Jeder ist anderswo

Die meisten wunderten sich über uns oder hielten uns vielleicht für übertrieben freizügig, als sie uns in dieser ungewöhnlichen, etwas anrüchigen Pose sahen. Ich hatte meine Hand unter seine Achsel geschoben, und wir gingen Schulter an Schulter dicht nebeneinander her. Ich ließ meinem Lachen wie immer freien Lauf. Er schien sich nicht um die anderen zu kümmern. Ein paar der jüngeren Leute schmunzelten über uns, die anderen begegneten uns ohne das geringste Interesse. Die älteren Passanten schimpften leise vor sich hin und schüttelten dabei empört ihre Köpfe, um so ihrer Abneigung gegen diesen gräßlichen, ausländischen Lärm Ausdruck zu verleihen, der die Ruhe ihrer Stadt störte.

„Wohin gehen Sie?" hatte ich ihn ganz gegen meine Gewohnheit in dieser schweigenden Stadt gefragt. Wir wollten beide dieselbe Straße überqueren, und die Ampel stand auf Rot. Er hatte ganz abwesend an mir vorbeigeschaut, und als ich mich ihm genähert und meine Frage wiederholt hatte, antwortete er nach einigem Zögern: „Zum Volkstheater."

Die Ampel zeigte mittlerweile Grün, und ich fragte ihn in dieser sonderbaren Höflichkeitsform, die ich nicht leiden kann, die sich aber gegen meinen Willen meinem Deutsch eingeprägt hatte: „Kann ich Sie begleiten? Ich habe denselben Weg."
„Gerne", sagte er.
Als wir den Zebrastreifen überquerten, stellte er sich vor: „Schneider. Ich arbeite als Masseur."
„Musa“, sagte ich. „Moser?" Er wiederholte meinen Namen, nachdem er ihn ein wenig abgewandelt hatte, und ich ließ ihn dabei. „Arbeiten Sie hier in Neubau?" fragte er.
„Nein", sagte ich, „ich wohne hier, aber ich arbeite in Favoriten in einer Keramikwerkstatt."
Nun hatten wir die Bushaltestelle erreicht, und ich erkundigte mich bei ihm: „Möchten Sie den Bus nehmen?"
„Nein, nein. Heute ist es so schön. Gehen wir lieber zu Fuß.”
Das Wetter lud tatsächlich zu einem Spaziergang ein, und ich war auch nicht in Eile. Ich wollte ja nur wie jede Woche meine Zeitschrift vom Kiosk beim Volkstheater holen.
Er fragte mich: „Macht Ihre Arbeit in der Töpferei Spaß?”
„Manchmal ja, manchmal nein", sagte ich. “Wir sind eine Gruppe von Freunden und erzeugen Keramikwaren zum Verkauf. Die Herstellung macht Spaß, aber der Verkauf ist oft langweilig. Wenn wir größere Aufträge haben, dann ist es umgekehrt; dann wird die Arbeit langweilig, aber das Geschäftliche interessant.”

Ich hielt einen Augenblick inne und fragte ihn dann: „Und wie ist das bei Ihnen?“
Als ob er nur auf diese Frage gewartet hätte, schoß er sofort los: „Meine Arbeit macht immer Spaß. Im Winter mag ich sie lieber als im Sommer. Die meisten meiner Kunden sind Frauen." Er grinste und ich erwiderte: „Das heißt also, sie legen Ihre Hände immer auf zartes weiches Fleisch?" Und als hätte er genau diesen Kommentar erwartet, begann er sofort zu kichern. „Selbstverständlich. Viel besser als bei Ihnen, wo Ihre Hände die ganze Zeit im Schlamm stecken." Abrupt brach er ab und sagte: „Entschuldigen Sie, das war nur ein Scherz." Bevor er sich aber entschuldigen konnte, hatte ich schon lange losgeprustet.
Am gegenüberliegenden Gehsteig war eine ältere Frau stehengeblieben und starrte uns ungläubig an. Wie konnten wir es wagen, uns am hellichten Tag so unverschämt zu benehmen? Mein Begleiter indes wiederholte seine Bemerkung und stieß mir dabei seinen Ellbogen in die Seite. Ich brüllte vor Lachen. Was ich sah, hörte und gleichzeitig spürte, war zu viel. Er fragte: „Verdienen Sie genug bei ihrer Arbeit?"
„Sie meinen mit dem Schlamm?" Sein schrilles Lachen übertönte diesmal das meine. Wieder rempelte er mich in die Seite, und die Passanten machten für uns, aber vor allem für unser Gelächter, den Weg frei. „Eigentlich verdienen wir ganz gut. Aber das Finanzamt vergißt keine Kreatur, die auch nur einen Schilling verdient. Unsere Ausgaben sind hoch, und nach Abzug der Steuern bleibt uns nicht viel übrig."
Sein Gesicht hatte sich verdüstert, das Lachen war ihm plötzlich vergangen. Auf typisch Wienerische Art schüttelte er den Kopf, um damit seinen Ärger kundzutun.
„Wissen Sie, mein Herr", sagte er plötzlich, und begann damit einen Vortrag, bei dem er beinahe zu atmen vergaß,, “unser Land ist dem Untergang geweiht, solange wir diese unbrauchbare Politik weiterverfolgen. Überall lacht man über uns. Stündlich nehmen wir hunderte Flüchtlinge auf, geben ihnen ein Dach über dem Kopf und Arbeit. Wir öffnen die Grenzen, damit die Ausländer wie eine Heuschreckenplage über uns herfallen und nie wieder gehen. Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg und leisten nichts. Sie sind Schuld an der Arbeitslosigkeit und den ständigen Teuerungen." Er redete, als ob er ein unsichtbares Publikum vor sich hätte. „Die Kriminalität steigt enorm, Frauen und Kinder werden vergewaltigt, Banken ausgeraubt, Autos gestohlen... Das ist unser Problem, mein Herr. Die Ausländer sind die Ursache für unsere hohen Steuern. Wir zahlen für sie. Ihre Anwesenheit in unserem Land ist eine Katastrophe.”

Als ob er mir ein großes Geheimnis anvertrauen wollte, flüsterte er jetzt: „Wir müssen etwas dagegen unternehmen. So kann das nicht weitergehen. Sie müssen fort. Sie müssen gehen." Endlich schwieg er. Er holte tief Luft. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Für mich sah er jetzt häßlich und fremd aus. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, ihn zu hassen. Doch sofort fiel mir meine Großmutter ein, an dem Tag als zum ersten Mal das Wort „Haß” über meine Lippen gekommen war. Ich hatte mit dem Nachbarskind beim Spielen zu streiten begonnen, und es artete in eine wilde Rauferei aus. Ich war nach Hause gerannt und hatte gebrüllt: „Ich hasse diesen gemeinen Hund."

Meine Großmutter hatte sich mit mir unter eine Dattelpalme gesetzt. Ich kann mich noch gut an den Platz erinnern. Es war einer jener heißen Sommertage, und ich spüre noch heute die Wärme des Sandes. Die Abenddämmerung war hereingebrochen. Meine Großmutter sammelte ein paar reife Datteln, die auf dem Boden lagen, schälte sie für mich und gab sie mir dann zu essen. Ich hatte meine Auseinandersetzung mit dem Nachbarn schon vergessen, da sagte sie zu mir: „Du bist noch jung. Aber merke Dir gut, was ich jetzt sage. Hasse nie einen Menschen. Hasse meinetwegen sein Tun, seine Worte, aber niemals ihn selbst. Wir sind alle gleich, doch unser Handeln und unsere Worte sind oft verschieden."

Damals verstand ich nicht genau, was sie meinte. Aber sie bestand darauf, daß ich auf unserem Heimweg ihre Worte solange wiederholte, bis ich sie auswendig konnte. Und sie blieben in meinem Gedächtnis.

In diesem Augenblick nun kamen mir ihre Worte wieder in den Sinn. Verwirrt und von meinen Gefühlen hin- und hergerissen hörte ich die Stimme meiner Großmutter, als ob sie mich davor bewahren wollte, einen schweren Fehler zu begehen. Ich zog meine Hand unter der Achsel des Mannes hervor und hielt ihn am Unterarm fest, um ihm über die Straße zu helfen. Dann entschuldigte ich mich, daß ich jetzt gehen müsse. Mein Weg wäre nun nicht mehr derselbe.

Wir trennten uns. Ich dachte daran, daß man mir schon oft gesagt hatte, man würde am Telefon nicht merken, daß ich ein Ausländer bin. Mein Deutsch sei akzentfrei. Er griff nach seinem weißen Stock, den er während unseres gemeinsamen Weges unter seinem linken Arm hatte baumeln lassen. Er streckte den Stock von sich. Mit mechanischen Bewegungen nach links und rechts suchte er seinen Weg und setzte ihn allein fort.

Wien, 26. 8. 1990