Eine Dattelpalme in Wien

Cover UND

Du kannst enge, verschlungene Gassen durchwandern,
die tausend Jahre in sich bergen und eins,
du kannst durch uralte Holztüren treten,
durch Fenster sehen,
für die man einst Wände durchbrach,
und in deinem Kopf trägst du
Steine von den Pyramiden.

Du überquerst Sand und Meer,
in deinem Kopf jetzt der Kern einer Dattelpalme,
tausend Jahre alt und eins.
Du setzt ihn in die Wärme deines Herzens ein,
bewegst dich mit ihm
aufs Festland zu,
das sich zum Meer hin neigt.

Du holst die Dattelpalme hervor
aus dem Gewächshaus deines Kopfes,
gräbst sie aus
aus deinem Herzen
und bringst sie in die Erde zu den anderen,
die schon reichlich Früchte tragen.

Du befreist die Dattelpalmen,
lässt sie tanzen in der Leere.
Aufrecht stehen sie da
und stolz in der Mitte,
während wir uns um sie herum bewegen.

Du setzt dich,
wenn du sie beobachtest,
stehst auf,
um sie zu umkreisen,
neigst dich ihnen zu,
gehst auf und ab vor ihnen.

Du lässt sie Schatten werfen,
die ein Bild schreiben.
Es wird von schlaflosen Augen gelesen,
und als das Licht
auf die Rundungen der Buchstaben trifft,
bringt es eine Wand zum Lachen,
eine zum Weinen,
eine zum Warten.

Du bringst all diese Anmut
in eine Schachtel zurück,
die einer Gebärmutter gleicht
und unter der Wärme deines Armes liegt,
wenn du gehst.

Du kannst dich nun ausruhen
für einen Augenblick,
du kannst Erinnerungen zulassen,
die dir durch den Kopf gehen
mit einer Last, die du eingeschlossen hast
in der Härte des Granits.
Und ohne es bemerkt zu haben,
ist ein Stein auf den Boden gefallen.
Du lächelst,
und eine Pyramide sprießt hervor.
Und während du noch überlegst,
ist die Pyramide gereift,
und du bewahrst sie
im Kern einer Olive auf
oder einer Dattel.

Du kannst dich jetzt auch ausruhen
von der Enge der Gassen,
der Schwere der Türen,
den Schatten der Fenster,
hast du doch schon
den Kern eingesetzt
in einer Stadt ohne Dattelpalmen!

Und schließlich gelangst du
in die Umlaufbahn der Sonne,
wobei deine Hand nur
einen Schritt in den Schatten tut.
Du siehst deine erschöpften Finger lächeln,
und du sagst:
„Wie sehr verdienen es doch diese Kerne,
dass wir leben!“

Wien, 25.05.2005

Erschienen in UND, Bild und Schrift, Künstlerinnen und Schriftsteller, Bildhauer und Dichterinnen, Atrium ed Arte, Ritter Verlag 2006.