Vermutungen

Facetten

Für einen Dichter, den wir sehr geliebt haben

Wenn sich die Wege der beiden
mittags kreuzen werden,
wird es für den Beobachter
von seinem hohen Ausguck aus
so aussehen,
als würden sie ein Kreuz
auf den Boden zeichnen.
Lange Zeit wird er darauf warten,
dass einer der beiden
zur Beichte kommt.
Die beiden werden es eilig haben,
um Dinge zu erledigen,
die für sie sehr wichtig,
für die Welt aber belanglos sind.
Und er wird mit der Geduld
eines Gelangweilten warten.

Das blitzende Weiß des Schnees
wird verschwinden
und auch die Durchsichtigkeit des Regens.
Verblassen wird die Tinte des Schattens.
Das Glas der Fenster wird zerspringen,
der Sturm wird die Tür aus den Angeln heben.
Die Menschen werden mit dicken Wörtern
und mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit
alle Öffnungen abdichten.
Der Sturm wird dennoch eindringen,
alle Mauern erstürmen,
über die Häupter hinwegfegen,
vom Hunger zerfressen
wird er alle Laternen zerschlagen
und dadurch die Augen verbinden,
wird die Kerzen ausblasen
und damit die Gebete ersticken,
wird alles Licht und alles Feuer verschlingen.

Zu Beginn des Abends werden sie
alte Bittgebete rezitieren,
ohne zu begreifen,
wie ihnen diese
über die Lippen kommen können
in einem solchen Jahr.
Ein paar werden einen imitieren,
der in weiter Ferne
darum zu beten scheint,
dass die stürmische Zeit vergehen möge,
- die aber trotzdem bleiben wird -,
dass eine Ära zu Ende gehen möge,
- die aber nicht vergehen wird -.
Zu Beginn der Morgendämmerung
werden sie zornig vom Warten fluchen,
werden den Vernichtung bringenden Sturm verdammen.
Sie werden flüsternd und ängstlich
einen Namen verfluchen
und sich dabei versündigen.

Der wartende Beobachter wird
da oben auf seinem Ausguck allein bleiben.
Kein Mensch wird unterwegs sein,
Zeitschriften und Bücher werden
von den Schergen des Sturms
durch die Luft gewirbelt werden.
Er wird sie beobachten,
und es wird so aussehen,
als würden sie die Sünden auffegen,
die Fußabdrücke der Menschen wegwischen,
die hier einmal vorüber gegangen sind.

„Na ja“ wird er seufzen, wie einer,
der gerade mit einer Arbeit beginnen soll,
die er nicht tun mag.
Er wird sich mit einer uralten,
Ehrerbietung verlangenden Robe zurecht machen,
und er wird hinausgehen
mit einem gespaltenen Stab,
der sich jedes Mal biegen wird,
wenn er sich auf ihn stützt,
und unter dem Arm wird
das Manuskript eines Buches sein,
das er nie lesen wird.

Der Tür zugewandt wird er das Geräusch
von auf den Boden klirrendem Metall hören.
Er wird erschrecken,
und das Manuskript wird zu Boden fallen.
Seine schweißnasse Haut wird
mit einer Gänsehaut überzogen sein.
Er wird sich mit dem Rücken der Hand
über den offenen Mund streichen.
Ängstlich wird er zu stammeln beginnen,
wenn er auf einzelne Blätter treten wird.

Niemand wird bei ihm sein
für einen Rat,
oder über ihm
für ein Gebet.
Er wird nicht wissen,
ob er zur Tür gehen soll,
um sie zu öffnen
oder zurückkehren,
um zu sehen,
was da hinter ihm klirrt.
Er wird sich tiefer beugen,
und sein Stab wird sich langsam spalten.
Der Spalt wird größer werden,
und er wird mit ansehen,
wie dieser sich in seiner Hand fortsetzt,
weiter über sein Gesicht hinweg
seinen Verstand spaltet,
und dabei wird er sich nicht
von seinem Platz weg bewegt haben,
allein in der Dunkelheit.

Er wird lange da stehen bleiben,
wird sich ein Licht wünschen,
das für ihn einen Schatten malen kann,
einen Schatten,
der seinen Weg kreuzen kann,
sich einen Vertrauten unter ihm,
einen Begleiter neben ihm wünschen.
Er wird lange dort stehen.
… … …
… … …

Er wird lange dort stehen,
wird zu einer Statue versteinern,
einer gebeugten,
einer gespaltenen Statue,
die die Menschen dann umkreisen werden,
um sie zu betrachten.

Wien, 02.08.2002


Erschienen in Facetten, Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz
Bibliothek der Provinz, Linz–Wien–München–Weitra 2004